(m)eine andere Geschichte

einer von Vielen

Bis zu meinem 23. Lebensjahr war ich "ganz normal". Der Brennpunkt in meinem Leben war Handball, und ich wollte darin so gut werden wie möglich werden. Alles andere stand hinten an. Außerdem, sozusagen nebenberuflich, studierte ich fürs höhere Lehramt, mit der langfristigen Absicht zu heiraten, ein Haus mit 2 Autos zu erarbeiten, dann zwei Kinder groß zu ziehen und... Das Leben hatte anderes im Sinn.

Plan B - aber wessen?

In besagtem 23. Lebensjahr brach mir ein Gegenspieler den rechten Mittelhandknochen des vierten Fingers, und das musste operiert werden. Die geplante örtliche Narkose verrutschte, eine Vollnarkose wurde zusätzlich fällig. Als nächstes "wachte" ich auf, schwebte wie ein mit Helium gefüllter Luftballon in der oberen linken Ecke des OP-Saales und schaute auf eine Gruppe von medizinischem Personal. Sie umstanden meinen Körper richteten den Bruch. Meine Hand wurde mit gespreizten Fingern auf eine Art Brett gespannt. Ich spürte nichts davon, kein Schmerz, keine Gefühle, keine Gedanken, keinerlei Verbindung zu meinen Körper. Ich schaute lediglich unbeteiligt zu. Mein Körper war mir so fremd oder so bekannt wie die vier Menschen, die ihn umstanden und denen ich nie zuvor begegnet war.

Aber ich konnte die Decke fühlen, die mich davon abhielt weiter aufzusteigen. Ich konnte den Luftzug hören, und spüren wie er mich in Richtung des Luft-Auslasses trieb, in der linken oberen Ecke. Ich hörte genau was die Menschen sagten, kann mich aber nicht an die Worte erinnern. Plötzlich gab es einen Ruck und alles wurde schwarz.

Als ich aus der Narkose aufwachte stand ein Mann in weißer Krankhausbekleidung neben meinem Bett. Er trat heran und ich sagte: Sie sind doch der Arzt, der mich operiert hat. Es war eine Feststellung meinerseits weil ich ihn von der Decke aus zu gesehen hatte. Ich erkannte ihn obwohl er nie aufgeblickt und eine OP-Maske getragen hatte. Ja, erwiderte er, aber woher weißt du das? Du hast mich nie zuvor gesehen.

Ich murmelte ein paar nichts sagende Worte und er ging, zufrieden sich davon überzeugt zu haben dass mit mir alles in Ordnung war. Etwas musste ihn alarmiert haben, eine knappe Sache, etwas das ihn veranlasste zu bleiben bis ich wieder das Bewusstsein erlangt hatte.

Es war mir sofort klar dass etwas geschehen war was ich für unmöglich gehalten hatte, und das der überwiegende Rest der Welt weiterhin für unmöglich halten würde. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt rein wissenschaftlich gestrickt und anti-religiös. Alles was nicht im Doppelblindversuch bewiesen war, gab es für mich nicht. Das versuchte ich nach Kräften beizubehalten. Bildlich gesprochen nahm ich die Erfahrung, steckte sie in eine Schublade, schob die Schublade zu und ging meinem bisherigen Leben so nach als wäre nichts besonderes geschehen. Es war ein guter Versuch, aber kein erfolgreicher.

(m)eine Ausfahrt

Nicht dass ich mir großartig Gedanken gemacht oder unruhig im Schlaf gewälzt hätte. Aber ich traf Entscheidungen anders als zuvor. Sie fühlten sich gar nicht anders an, ich bemerkte keinen Unterschied in meinem Innern, war nach wie vor der selbe. Trotzdem, sie wirkten sich ganz anders aus, hier das krasseste Beispiel. Als die laufende Handballsaison zu Ende ging - wir waren aus der Bundesliga abgestiegen und redeten in der Umkleidekabine über die Zukunft, wer den Verein wechselt oder bleibt - sprach ein gleichaltriger Mitspieler davon, dass er erstmal eine Weltreise machen würde. Und ich sagte zu meiner eigenen Überraschung spontan und eher sehnsüchtig:

Da würd' ich gern mitkommen.

Und er, ein bisschen provozierend: Mach' doch! Von mir aus kannst du gern mitkommen.

Und ich, plötzlich unerklärlich entschlossen: Ja, das mache ich!

So eine Entscheidung meinerseits wäre zuvor undenkbar gewesen, denn sie bedeutete dass ich meine handballerische Zukunft hinten anstelle. Das hatte ich mir bis zu diesem Moment nicht einmal vorstellen können. Ich, bisheriger Kopfmensch, traf eine Spontanentscheidung aus dem Bauch heraus, die mein Leben auf den Kopf stellen sollte. Wie sehr und wie oft, das ahnte ich damals nicht. Den plötzlichen Widerspruch zu meiner bisherigen Einstellung "Handball über alles" nahm ich zwar intellektuell war, doch löste das keinerlei Bedenken oder Befürchtungen aus, nur ein leichtes Wundern. Es fühlte sich gut und richtig an, und ich stand dazu, 100%. Jahre später stieß ich auf eine Gedichtzeile (Ralph Waldo Emerson) die es auf den Punkt brachte:
Two roads converged in the woods. I took the one less travelled by, and that made all the difference.
Zu Deutsch und unpoetisch: "Zwei Straßen trafen sich im Wald. Ich nahm die weniger benutzte, und das machte den ganzen Unterschied." Es war bloß der Anfang.


(m)eine weniger benutze Straße(n)

Das Folgejahr brachte eine 3-monatige Afrikareise. Zwei Jahre später brach ich das Lehramstudium kurz vor dem 1. Staatsexamen ab, versilberte meinen Besitz und ging allein auf Reisen mit unbestimmtem Ende. Im Folgejahr nahm sich meine Mutter das Leben und ich schaffte es gerade noch nach Hause um die vom Friedhof kommenden Verwandten zu Kaffee und Kuchen zu begrüßen. Meine Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits an Krebs erkrankt, und ich blieb bis er etwa drei Monate später verstarb.

Nach einem Jahr in Paris ging ich dahin zurück wo ich meine Reise anläßlich des Todes meiner Mutter unterbrochen hatte. Auch diesmal kam alles andes als geplant. Im Flugzeug nach Mexico saß eine merkwürdiger Mensch in oranger Kleidung, der mich irgendwie sehr interessierte. Er merkte das und lud mich mit folgenden Worten ein:

Ich bin Yogalehrer, und falls du möchtest bringe ich dir gerne alles bei, was ich kann.

Ich sagte: Ja gern, aber ich brauche noch einen Monat Zeit weil ich paar Abmachungen einhalten möchte. Dann komme ich nach.

Er gab mir seine Adresse in Mexico. Ich war etwa ein Jahr bei ihm und beschloß dann nach Indien zu fahren, um dem Menschen zu begegnen von dem er alles gelernt hatte. Das führte dazu dass ich selber Yogalehrer und Yoga-Missionar wurde, etwa 12 Jahre lang, hauptsächlich in Südostasien. Während dieser Zeit wurde ich beim Goldschmuggeln nach Indien erwischt - ein Geldbeschaffungsmaßnahme für die Yoga-Organisation - und verbrachte 18 Monate in U-Haft. Ein paar Jahre später kam die nächste Ausfahrt in Gestalt einer Frau. Ich, mittlerweile 42 Jahre alt, nahm sie.

Nach Deutschland kehrt ich Ende 1999 zurück und brachte neben 200,- DM Gesamtvermögen meine taiwanesische Frau mit, von der ich ein Jahr später wieder geschieden wurde. Nach und neben einigen unterschiedlichen Jobs arbeitete ich schließlich etwa 3 Jahre ganztags für den Naturheilverein Hilfe zur Selbsthilfe e.V. Dann machte ich mich selbständig. Wechselnde Beziehungen und wechselnde Wohnorte prägten bis etwa 2008 diese Phase meines Lebens.

Dann kam die nächste Ausfahrt, wieder in Gestalt einer Frau, und ich wurde sesshaft, in Oranienburg. Mittlerweile bin ich Opa geworden ohne einen biologischen Beitrag dazu geleistet zu haben.

was jetzt?

Während meiner Zeit in Paris, vor über 30 Jahren, hatte ich mich mit C.G. Jung beschäftigt. Ein Satz ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, sinngemäß:
Wenn ein innerer Impuls keine Aufmerksamkeit bekommt, dann muss er sich als Schicksal manifestieren.
Aus diesem Blickwinkel ist meine weniger benutzte Straße nichts weiter als eine Serie von inneren Impulsen denen ich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Die haben sie sich dann geholt. Aus diesem Blickwinkel gesehen ist der Grund dafür, dass ich überhaupt sesshaft werden konnte ist, meine im Verlauf des Lebens erworbene, oder sollte ich besser sagen erschwitzte Fähigikeit, meinen inneren Impulsen Aufmerksamkeit zu schenken bevor sie sich als Schicksal manifestieren müssen. Da ist etwas dran.

Inneren Impulsen Aufmerksamkeit zu schenken tun wir alle, jedenfalls manchen. Allen inneren Impulsen Aufmerksamkeit zu schenken schafft niemand den ich kenne, ich auch nicht. Allgemeine Hemmschwellen dafür innere Impulse zu beachten, werden vom Kollektiv gesetzt, und die passende Bezeichnung dafür ist Tabu(s): Das macht man einfach nicht. Keine weitere Begründung notwendig. Beispiel Nummer 1 ist sterben, dann wenn's passiert.

Wie fast alle junge Menschen habe ich nach der Pubertät ein bisschen an Tabus gerüttelt. Ich lief zum Beispiel mit einem Ohring - heute für Männer nichts besonderes, aber 1980 schon - mit Lederjacke, kurzer Hose und frisch geschorener Glatze zur Taufe meines Patenkindes auf, trug es auf einem Kissen den Mittelgang der Kirche hinunter, mitten durch die rechts und links sitzenden nichts ahnenden Verwandten und Freunde - (m)ein maximal ausgereizter Überraschungseffekt.

Die für mich wichtigen Hemmschwellen sind nicht nur die kollektiven. Ich habe auch persönliche, welche die nicht von allen anderen geteilt werden. Beim Brechen meiner persönlichen Tabus war ich gar nicht fleißig. MEIN Handball ging mir über alles, stand nicht zur Diskussion. Kommentare wie Damit kann man doch kein Geld verdienen. Pass bloß auf deine Gesundheit auf, das geht auf die Knochen wenn man's übertreibt... haben immer nur die eine Reaktion getriggert: Denen werd' ich es zeigen. Das Leben hat's mir dann gezeigt, in Form einer Schicksals-Kette die einen unbeachteten inneren Impuls nach dem anderen ans Licht brachte. Seneca drückt das vor etwa 2000 Jahren so aus:
Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen schleift es.

führen und führen lassen

Vor der lebensverändernden OP habe ich mein Leben geführt wie es mir beigebracht worden war. Innere Impulse kamen nicht zum tragen. Nach der OP haben innere Impulse mein Leben bestimmt weil ich ihnen auf Grund dieser Erfahrung erlauben konnte sich zu manifestieren. Ich musste keine der vielen Ausfahrten nehmen, ich habe sie alle freiwillig genommen, auch wenn es keine rationalen Entscheidungen waren. Es waren Bauchentscheidungen von denen ich mich habe führen lassen, in (m)ein sehr buntes und sehr bewegtes Leben.

Jetzt lebe ich anders. Aus dem entweder mit rationalen Entscheidung (vor der OP) das Leben führen, ODER mich vom Bauchgefühl (nach der OP) führen lassen, ist ein UND geworden. Meine Vernunft und meine Eingebungen dürfen abgestimmt auf die mich umgebenden Umstände zusammen mein Leben bestimmen. Das macht es äußerlich ruhiger und weniger bunt. Meine Freiheiten haben dadurch zugenommen. Aber innerlich, innerlich ist es noch schneller und noch bunter geworden. Das muss man/ich erstmal aushalten.

Freiheit hat mit Unbekanntem zu tun. Unbekanntes gebietet Vorsicht. Vorsicht wird erst möglich wenn ich die Angst vor kollektiven und persönlichen Tabus überwunden habe. Sie, die Tabus und meine Angst davor, halten mich davon ab bisher Unbekanntes vorsichtig zu erforschen und damit meinen Horizont zu erweitern. Tabus zu brechen bringt mich nicht wirklich weiter. Sie wollen erforscht und verstanden werden. Dann brauche ich sie nicht zu brechen, kann sie jederzeit unbemerkt umgehen ohne den Zorn all derer auf mich zu lenken die die von mir umgangenen Tabus einhalten möchten. Beides ist freiwillig, Tabus einhalten und Tabus umgehen, vor allem die persönlichen.