Der Mythos einer geteilten Ukraine

Artikel vom 4. März 2014 auf der Seite 23 der New York Times

Natalka Sniadanko Natalka Sniadanko ist eine Roman Autorin und Journalistin. Dieses Essay wurde von Jennifer Croft aus dem Ukrainischen ins Englische übersetzt, und dann von Georg Keppler aus dem Englischen ins Deutsche.

Eine englische Version erschien am 4. März 2014 auf der Seite 23 der New York Times mit der Überschrift "The Myth of a Divided Ukraine" (Der Mythos einer geteilten Ukraine).

Am 5. März 2014 erschien der Artikel in der International New York Times auf Seite 8 mit der Überschrift "Russia’s doomed ideological war" (Russlands zum Scheitern verurteilter ideologischer Krieg).

Die New York Times wird vermutlich zurecht verdächtigt in größeren Fragen regierungstreu zu sein. Ich möchte in der Ukraine Frage keine Partei ergreifen. Zu jedem Tanz braucht es zwei. Beide müssen mittanzen. Ich finde es interessant wie anders sich ein und dieselbe Person "anhören" kann. Während der Zeitungsartikel eher einer ideologisch-theoretische Grundhaltung entspringt, spricht Natalka Sniadanko im Interview mit Worten die vom aktuell-menschlichen Geschehen geprägt sind.


Deutschlandfunk 25. Feb. 2023

Die Schrifstellerin Natalka Sniadanko über die Lage in der Ukraine: Radio-Interview 2022externer link
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LVIV, Ukraine – Vor ein paar Tagen kam ein Mitglied der deutschen Grünen Partei nach Lviv. Ich bin sowohl Roman-Autorin und Journalistin, als auch eine Übersetzerin für Deutsch und Polnisch, und manchmal schreibe ich in diesen Sprachen. Er hatte einen meiner Artikel gelesen und bat mich, ihm zu helfen die Ukraine zu verstehen: Zu Vieles, sagte er, sei in der deutschen Presse von pro-russischer Propaganda beeinflusst.

Ich war erschüttert davon, was die Deutschen über die Protestierenden auf dem Maidan in Kiev denken – dass sie nationalistische Extremisten und anti-Semiten seien, dass sämtliche Opfer, über die in den Nachrichten berichtet wird, lediglich Kollateralschäden eines legitimen Versuchs der Regierung seien, die Situation zu stabilisieren. Mit anderen Worten, die Moskauer Version.

Wie dem auch sei, ich war nicht überrascht. Obwohl Russland erst vor ein paar Tagen in die Krim einmarschiert ist, reicht der Krieg gegen die Ukraine sehr viel weiter zurück. Man kann tatsächlich sagen, dass Russland nie keinen Krieg gegen die Ukraine führte, nicht einmal nachdem der ukrainische Anführer Bohdan Khmelnytsky im Jahre 1654 das Pereyaslav Abkommen mit dem russischen Zaren unterschrieben hatte. Mit diesem Abkommen wurde ein Stück des ukrainischen Territoriums Teil des Russischen Reiches, während der Rest an den polnisch-lettischen Staatenbund fiel.

Das Abkommen hatte den Ukrainern Autonomie versprochen; dieses Versprechen wurde niemals erfüllt. Stattdessen wurde die Ukraine zur Provinz eines Reiches verwandelt, zu Russlands Warenhaus und Zulieferer mit einer Bevölkerung ohne Recht auf eigenen Geschichte, Kultur oder Staatsgefüge. Russland setzte diesen ideologischen Krieg in der Sowjet-Ära fort: Massendeportationen, Vertreibungen, Hungersnöte, Einsatz von Ukrainern als Kanonenfutter, das im Namen Stalins mit leeren Händen gegen deutsche Panzer ins Feld geschickt wurde.

In den westlichen Teilen der Ukraine begann der Krieg später, im Jahre 1945, als die deutsche Besatzung von der russischen Besatzung abgelöst wurde. Einmal begonnen, sollte sie noch länger und noch brutaler werden. Lange Jahre nutzten West-Ukrainer Guerilla Taktiken im Versuch das sowjetische Regime zu stürzen und einen unabhängigen ukrainischen Staat zu gründen. In dieser Periode entstand der Stereotyp des ukrainisch sprechenden Abtrünnigen: der Bauerntölpel, der beim bloßen Klang russischer Sprache zum Töten bereit ist.

Dieser Krieg wird heute weitergeführt, indem die Ideologen des russischen Präsidenten Vladimir V. Putin versuchen, ihre virtuelle Wirklichkeit nicht nur den Ukrainern zu verkaufen, sondern der ganzen Welt. Diese jüngste Phase des Krieges wurde in den vergangenen drei Monaten vorangetrieben, während Ukrainer den Maidan bewachten, die Verwundeten versorgten und jene Truppen in Schach hielten, die dazu bereit waren ihre eigenen Landsleute abzuschlachten, Ukrainer, die für das Recht kämpften, einen freien neuen Staat zu gründen, frei von Korruption, und dabei die ganze Zeit verdutzt waren von der Interessenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft.

Jetzt, wo in Kiev die ersten Wehrpflichtigen eingezogen wurden, hat Russland nicht nur virtuell den Krieg gegen die Ukraine erklärt, sondern auch in der Wirklichkeit, und wir alle werden uns darüber klar, dass es noch schlimmer kommen wird.

Am 1. März wurden Maidan-zugehörige Aktivisten von Kräften angegriffen, die aus Russland importiert wurden. Unter den Hundert plus Verletzten befand sich einer der beliebtesten Poeten der Ukraine, Serhiy Zhadan, dessen Kopf an zwei Stellen aufgeschlitzt worden war. Die russische Flagge wurde auf Gebäuden gehisst, die örtliche Regierungsorgane beherbergen. Nur wenige Stunden später erschienen Videos auf YouTube, in denen Russische Agitatoren das Geld aufteilten, das sie für ihre Arbeit erhalten hatten.

Es ist wichtig, darauf zu achten, wie der ideologische Krieg sich neben einem möglichen militärischen Konflikt entwickelt. Mr. Putin möchte, dass die Ukrainer und die Welt glauben, die Osthälfte des Landes unterstütze ihn. Und tatsächlich vermehren sich entlang den endlosen schlecht unterhaltenen Straßen des Landes in gewisser Hinsicht solche Mythen und Stereotypen. Sie sind bereits tief im ukrainischen Gemüt verwurzelt: Der Mythos des aggressiven Nationalisten aus dem Westen hat schon lange sein gleichermaßen unbegründetes Gegenüber im Mythos des russisch sprechenden Ost-Ukrainers, der mit seinem von russischer Propaganda gewaschenen Gehirn die Sklaverei in einem totalitären System der Mitgliedschaft in NATO oder EU vorzieht.

Diese Mythen waren 2004 während der orangen Revolution besonders offensichtlich und wurden von beiden Seiten genutzt, um Macht zu gewinnen. Im Osten haben die Menschen große Angst vor der "Orangen Seuche"; im Westen haben sie große Angst vor den "Donetsk Kriminellen". So lange diese Mythen geglaubt wurden, waren besagte politische Kräfte in der Lage, die Macht für ihre eigenen Ziele einzusetzen und die Menschen mit politischen Spekulationen und Einschüchterungen zu in Atem zu halten, anstatt sinnvolle ökonomische Reformen durchzuführen.

Beide Mythen kollabieren; darum ging es in den Protesten von 2014. Sowohl das westliche wie das östliche Lager hatte die Gelegenheit zu regieren, und sie scheiterten beide. Damit haben sie den Ukrainern gezeigt, dass die Schwierigkeit nicht die eine oder die andere Region ist, sondern die korrupte Führungsspitze der Menschen, egal aus welcher Region sie kommen. Von Politikern werden endlich Handlungspläne verlangt, die tatsächlich etwas erreichen, anstatt populärer Phrasen oder ideologischer Mythen.

In den vergangenen Tagen haben sich in über die ganze Region verteilten Städten Menschen versammelt, um gegen die russische Aggressionspolitik zu protestieren. Dank Mr. Putin hat die Ukraine nicht nur eine Zunahme der russisch sprechenden ukrainischen Patrioten erlebt, sondern auch von "russisch sprechenden Russophoben", die sich zwar als Russen fühlen, aber nichts mit ihnen zu tun haben wollen.

Russlands ideologischer Krieg mit der Ukraine ist innerhalb der ukrainischen Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Seine Opfer finden sich lediglich in der gewollten Isolation pro-russischer Medien. Jetzt müssen wir die Gefahr eines wirklichen Krieges abwenden – oder ihn gewinnen.

LVIV, Ukraine — A few days ago a member of the German Green Party came to Lviv. I am a novelist and journalist, as well as a translator in German and Polish, and I sometimes write in those languages. He had read one of my articles, and he asked me to help him understand Ukraine: Too much of the reporting in the German press, he said, was biased by pro-Russian propaganda.

I was appalled to hear what many Germans thought of the Maidan protesters in Kiev — that they were nationalist extremists and anti-Semites, that all those victims they had heard about were merely collateral damage in a legitimate government attempt to stabilize the situation. In other words, the Moscow line.

I was not, however, surprised. While Russia may have invaded Crimea only a few days ago, its war against Ukraine goes back much further. In fact, one might say that Russia has never not been at war with Ukraine, not even after the Ukrainian hetman, or leader, Bohdan Khmelnytsky, signed the Pereyaslav Agreement with the Russian czar in 1654. With that agreement, some of Ukraine’s territory became part of the Russian Empire, while the rest of it fell to the Polish-Lithuanian Commonwealth.

The agreement had promised autonomy to the Ukrainians; that promise was never fulfilled. Instead, Ukraine was transformed into the province of an empire, Russia’s warehouse and supplier, a population with no right to its own history, culture or state. Russia continued to wage this ideological war during the Soviet era: mass deportations, exiles, famines, using Ukrainians as cannon fodder, sending them barehanded against German tanks in the name of Stalin.

In the western regions of Ukraine, the war began later, in 1945, when German occupation was replaced by Soviet occupation. Once begun, it would be more protracted, and more brutal. For years to come the western Ukrainians used guerrilla tactics in an attempt to overthrow the Soviet regime and establish an independent Ukrainian state. It was during this period that the stereotype of the Ukrainian-speaking renegade emerged: the country bumpkin ready to kill at the mere sound of Russian speech.

This war continues today, as the ideologues of the Russian president, Vladimir V. Putin, are trying to sell their virtual reality not only to Ukrainians, but to the world. This latest phase of the war has been underway for three months, while Ukrainians kept watch on the Maidan, treated the wounded, held at bay those troops who were ready to slaughter their own people and fought for the right to create a new state, free of corruption, all the while stunned by the disinterest of the international community.

Now that Russia has declared not only virtual war on Ukraine, but also real war, now that the first conscripts have been mobilized by Kiev, we all realize that still worse lies in store for us.

On March 1, Maidan-affiliated activists were attacked by forces imported from Russia. Among the hundred or so injured was one of Ukraine’s most beloved poets, Serhiy Zhadan, whose head was sliced open in two places. The Russian flag was raised over buildings housing local governments. Just a few hours later videos appeared on YouTube showing these Russian agitators divvying up the money they were getting for their performances.

It is important to watch the ideological war playing out alongside the possibility of a military conflict. Mr. Putin wants Ukrainians and the world to believe that the eastern half of the country supports him. And, indeed, myths and stereotypes have a way of breeding along the country’s endless, poorly maintained roads. They are already deeply rooted in the Ukrainian mind: The myth of the aggressive nationalist from the west has long had as its counterpart the equally unfounded myth of the Russian-speaking easterner who, brainwashed by Russian propaganda, would take slavery in a totalitarian state over membership in NATO or the European Union.

These myths were most apparent during the Orange Revolution of 2004, and they have been used by both sides to gain power. In the east, people are terrified of the "Orange Plague"; in the west, people are terrified of "Donetsk criminals." As long as these myths were believed, the political forces in question have been able to use power for their own gain, sustaining the people on political speculations and intimidation instead of enacting meaningful economic reforms.

But those myths are collapsing; that is what the 2014 protests were all about. Both eastern and western camps had a chance at ruling, and both failed. In doing so, they showed Ukrainians that the challenge was not between one region or another, but between the corrupt at the top and the people, whatever region they are from. Politicians today are finally being asked for plans of action that will actually achieve things, rather than populist slogans or ideological myths.

In recent days, in cities across the region, people have gathered to protest Russian aggression. Thanks to Mr. Putin, Ukraine has seen a rise not only in Russian-speaking Ukrainian patriots, but also "Russian-speaking Russophobes," who identify as Russian but want nothing to do with him.

Russia’s ideological war with Ukraine is doomed to fail within Ukrainian society. Its victims exist only in the willful isolation of the pro-Russian media. Now we must avert the danger of real war — or else win it.